Leseprobe: der Anfang

Kapitel 1 “Ankommen”

“Dagmar Caroline Heinemann!”

Daggi zog sich die Decke weiter über den Kopf. Sie wollte nicht aufstehen.

“Junges Fräulein! Die Schule fängt wieder an, steh auf, sonst kommst du noch zu spät!”

Daggi hörte ihre große Schwester aus ihrem Zimmer die Treppe runter rumpeln, Jambo bellte unten in der Küche, und ihre Mutter rief nochmal von unten: “Daggi! Sapperlot! Steh auf, du Schlafmütze!”

„Meeh…Das Bett ist so schön warm und das Kissen ist so schön weich.” dachte Daggi bei sich. 

Daggi war 14, und es war der erste Tag nach den Sommerferien. 

So richtig “bock” auf die Schule hatte sie nicht. Nicht wegen ihren Klassenkameraden oder den Lehrern. Eher wegen der Langeweile, die sie manchmal im Unterricht hatte. Irgendwas spannendes fehlte in ihrem Leben – aber sie wußte nicht, was das war. (Lieber wäre sie noch eine Woche länger im Sportcamp geblieben, aber die letzten zwei Wochen hatten zwar Spaß gemacht, jedoch war Leichathletik nicht ihr Ding. Aber besser als Schule war es allemal.)

Sie blinzelte auf ihr Handy, das neben dem Bett auf dem Nachtskommödchen gelegen hatte: 7 Uhr 04. Anziehen, ins Bad, Frühstücken, zum Bahnhof laufen, um den Zug zu erwischen… Jup. Sie war spät dran. Und da war eine Textnachricht von Marie-Sophie: “Guten Morgen Süße! Ich muß dir unbedingt was gaaanz wichtiges erzählen! Bis gleich (Kusssmilie)”

“Na toll” dachte Daggi, während sie aus dem Bett kroch und sich anzog. “Wahrscheinlich hat sie mal wieder nen neuen Freund. Oder zwei”. Bei Marie-Sophie wusste man das nie so genau. 

Als sie immer noch etwas schläfrig runter in die Küche kam, zeterte ihre Mutter: “Daggi! Du mußt in die Puschen kommen! Hast du alles im Ranzen, was du brauchst?“

“Jaaaa, Mama!” Daggi war genervt.

“Sieh zu, daß du den Zug nicht verpaßt! Du mußt ja nicht gleich am ersten Tag nach den Ferien zu spät kommen!”

“Boah Mama! …Und warum kann ich nicht einfach mit Sabine mitfahren? Dann brauch ich nicht zum Bahnhof latschen?!”

“Erstens ist deine große Schwester alt genug, um von ihrem Freund mit dem Auto abgeholt zu werden und zweitens: Solange du 14 bist, fährst du mit dem Zug. Dann lernst du vielleicht auch Pünktlichkeit, basta!”

“Kann Papa mich nicht mitnehmen?”

“Dein Vater ist kein Taxi und außerdem ist der schon lange weg. Und jetzt beeil dich!”

Daggi rollte nur murrend mit den Augen, als sie sich die Milch in ihre Frühstücksflocken schüttete. Sie war von ihrer Mutter nur genervt. Vielleicht war in die Schule zu gehen doch keine so schlechte Idee, um mal Ruhe vor ihr zu haben. Nach sechs Wochen Sommerferien hatte sie genug von „Family“. Trotz der zwei Wochen Sportcamp.

7Uhr36: Auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Wiezethal stand Daggi mit Kopfhörern auf den Ohren und wartete auf den Zug. Es standen noch einige andere Leute herum, meist Schülerinnen und Schüler, aber auch ein paar erwachsene Pendler. Von Daggi unbemerkt stand ein anderes Mädchen, einsam und verunsichert auf dem Bahnsteig: Laura.

Lauras Familie war erst vor fast einem Monat mit seiner Familie aus Deutschland nach Wiezethal gezogen. Ihr Stiefvater, Jens Bauer, hatte einen neuen Job in diesem komischen Land angenommen. Für Laura war der Umzug die Hölle: ein anderes Land, eine andere Umgebung. 

Insgesamt haßte sie ihren Stiefvater dafür noch mehr als ohnehin schon. Denn eigentlich mochte sie ihren Stiefvater von Anfang an nicht. Aber ihre Mutter liebte ihn, und er war der Vater ihres Halbbruders Johannes. [Und obwohl Jens sein Vater war, liebte sie ihr kleines Brüderchen.] Auch wenn er in letzter Zeit immer mehr nervte. Das war auch in dem ganzen Umzugstreß nicht besser geworden. Laura hatte sich in ihrem neuen Zimmer zurückgezogen, Musik gehört – und, wenn die Verbindung gut genug war, mit zwei-drei Freundinnen in Deutschland getextet. Nur zweimal war sie in der ganzen Zeit in dem Kuhkaff gewesen. Für sie war es ein Kuhkaff. Wiezethal war nicht Berlin. Sie vermißte die Stadtluft – und die Aussicht auf eine neue Schule zu gehen, wo sie die Neue, die Fremde sein würde, machte das alles nicht besser. Sie fühlte sich einsam und sie hatte Angst. 

Alles um sie herum war fremd.

(Sie hatte auf ihrer alten Schule in Berlin zwar nicht wirklich viele Freunde zurückgelassen, aber sie vermißte ihre Klasse irgendwie.) Und sogar ihre Schule, sogar die Lehrer.)

Laura war auch ziemlich spät dran gewesen, als sie das Haus verlassen hatte. Bis jetzt hatte sie niemand Gleichaltrigen getroffen oder gesehen. Dreieinhalb Wochen keinen Kontakt zu Menschen in ihrem Alter. Nur ihre Mutter, ihr kleiner Bruder und ihr Stiefvater. Jetzt sah sie 30 Meter vor sich ein Mädchen gehen. Mit Rucksack. „Die wird wahrscheinlich auch zur Schule müssen.” dachte sie sich. Aber sie konnte ja nicht einfach zu dem fremden Mädchen hinlaufen. Das wäre ihr zu peinlich. Also lief sie weiter hinter der Unbekannten her. Und siehe da: je näher sie dem Bahnhof kamen, desto mehr Kinder und Jugendliche tauchten auf.  

Ihr kam es zwar etwas komisch vor, das es hier keine Schulbusse gab, aber von Wiezethal aus war das der schnellste Weg: In Müssen lag das Gymnasium direkt in der Bahnhofstraße. Nur 2 Minuten zu laufen. Das hatten sie und ihre Mutter beim Schuleingliederungstest herausgefunden. Das war das eine der beiden Male gewesen, dass sie das Haus verlassen hatte. Sie war mit ihrer Mutter, allerdings mit dem Auto, nach Müssen gefahren, um den Schulweg kennenzulernen und einen Leistungstest zu machen. In Deutschland hatte sie die 7. Klasse beendet, dann waren Sommerferien und der Umzug gewesen – und hier hatte sie den Test bestanden. Alle Fächer mit 1 oder 2. Es war ein Arbeitsblatt, das sie ausfüllen musste – und ein Gespräch mit einer sehr alten Lehrerin.

Nach dem Gespräch hatte die alte Lehrerin gesagt: „Ich sehe da keine Probleme! Du kannst direkt in die 8. Klasse. In die 8c – die Klassenlehrerin heißt Rickmers. Noch eine letzte Frage: Religion: katholisch oder evangelisch?”

Laura verstand die Frage nicht wirklich: in Berlin hatte sie nur Ethik gehabt. 

Ihre Mutter meinte dann: „Ähm…das muss ich mit meinem Mann erst besprechen…“, worauf die Lehrerin antwortete: „Das ist jetzt auch noch nicht weiter schlimm, das können wir immer noch in der ersten Schulwoche regeln.”

“Erste Schulwoche“, das hatte vor zwei Wochen noch so weit weg geklungen. Aber heute war es soweit. Jetzt stand sie hier im Bahnhof am Gleis 1. Und da die Strecke in Wiezethal endete, gab es nur eine Fahrtrichtung, in der die Züge den Bahnhof verlassen konnten. Sie konnte also schon mal nicht in den verkehrten Zug einsteigen.

Das unbekannte Mädchen hatte sie aus den Augen verloren. Um 7.39 kam der Zug. Aber was für einer!

Der Zug bestand aus grünen Waggons, die von einer Dampflokomotive geschoben wurden. Mit Quietschen und Zischen kam der Zug zum Stehen. Laura fühlte sich wieder mal im falschen Film, fast wie bei Harry Potter. Ihr Großvater, der Vater ihrer Mutter, hatte eine Modelleisenbahn mit Dampflokomotiven im Keller gehabt. Als kleines Mädchen hatte sie zu Weihnachten mit ihm und der Eisenbahn gespielt. Aber das hier, das war echt. Anscheinend schien sich aber niemand darüber zu wundern. Die anderen Jugendlichen und die paar Erwachsenen taten so, als sei ein Zug mit Dampflokomotive das normalste der Welt.

Als der Zug endlich stand, gingen hier und da ein paar Türen mit einem lauten “klack-klack” auf. 

Laura stand ganz vorne am Bahnsteig, dort wo nur wenige andere Leute waren, am letzten Waggon. Sie starrte die Tür wie das achte Weltwunder an – und fühlte sich verpeilt. Kein Touch-Sensor piepste mit grünen LEDs zum Öffnen. “Wo muss ich drauf drücken?” dachte sie sich fragend. In Berlin hatte jede S-Bahn einen piepsenden Sensor gehabt. Diese Wagentür aber hatte eine Türklinke.

Im Hintergrund erschallte ein greller Pfiff. Erschrocken sah sie sich um. Sie wollte nicht schon an einer Türklinke des Zuges an ihrem ersten Schultag scheitern. 

“Mensch Mädchen, du musst die Tür schon aufmachen, wenn du mitfahren willst!” sagte eine Männerstimme hinter ihr. Der Mann war offenbar ein Bahnmitarbeiter. Aber die Uniform sah altmodisch aus. Er trat an die Tür und öffnete mit einem “klack-klack” die Tür.

“So, Fräulein, bitte einsteigen, wir fahren jetzt ab!”

Verlegen, weil sie sich wegen der Türklinke so verpeilt vorkam, und auch etwas irritiert, weil der Mann sie “Fräulein” genannt hatte, stieg sie ein. Der Waggon war leer, sie setzte sich auf den nächsten Sitzplatz. Der Schaffner lehnte sich aus dem Wagen, winkte mit einer grünen Kelle. Die Lokomotive pfiff mit einem kurzen “üüü-uuu-üüü”, und der Zug setzte sich zuckend in Bewegung. Also das waren diese dumpfen Pfeiftöne, die sie den ganzen Tag über immer mal wieder im Hintergrund gehört hatte! (seit dem sie hier hergezogen waren)

Der Schaffner schloß die Tür, und kam sofort auf Laura zu:

“Sooo…guten Morgen! Die Fahrkarte bitte!”

Diese hätte Laura schon beinahe vergessen gehabt, sie kramte ihre “Schülerfahrkarte” heraus. Eine beigefarbene Pappkarte – “Fahrkarte für Schülerinnen und Schüler. Der/die Inhaber*In ist berechtigt zur Teilnahme am öffentlichen Personennahverkehr zwischen 6.00Uhr und 22.00Uhr 3.Klasse im gesamten Geltungsbereich” stand da aufgedruckt. 

Das Feld für den Namen und die Schule hatte sie schon ausgefüllt.

“Das Bild muss ich erst noch machen lassen!” sagte sie verlegen, als sie dem Schaffner den Ausweis vorzeigte, denn der Platz für das Lichtbild war noch leer.

Der Schaffner nickte nur, “aber spätestens morgen, Fräulein!”

“Ja, ich kümmer mich drum…!“, murmelte sie verlegen, aber der Schaffner war schon durch die Tür in den nächsten Wagen verschwunden.

Das war also jetzt ihr neuer Schulweg.  

Neugierig auf die komplett neue Umgebung, aber auch etwas verschüchtert, nahm sie alles um sie herum wahr: Das Ruckeln des Waggons, das tadamm-tadamm der Räder auf den Schienen, die Häuser und Straßen die am Fenster vorüber zogen und hin und wieder die Geräusche der Lokomotive.

Sie bemerkte einen eigenartigen Geruch in ihrem Waggon: Es roch irgendwie…undefinierbar. Am ehesten erinnerte sie der Geruch an den Dachboden ihrer Großeltern in Köln. Ob das die Kunstledersitze waren? Laura hatte keine Ahnung. Es fiel ihr ein, dass sie auf die anderen Jugendlichen achten musste, ob und wann sie aussteigen würden, um die Haltestelle nicht zu verpassen.

Es waren gerade mal vier Minuten vergangen, da knarrte eine Lautsprecheransage aus der gewölbten Decke des Waggons: “Nächster Halt, Müssen Industriegebiet. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.”

War es schon so weit? Nein, Industriegebiet klang nicht nach Schule. Um sicherzugehen, stand sie auf und ging einen Waggon nach vorne. Da saßen offensichtlich Kinder und Jugendliche jeden Alters, aber niemand stieg aus. Unschlüssig setzte sie sich wieder hin und behielt die anderen im Auge. 

Die Jungen und Mädchen waren anscheinend jünger als sie. Wollte sie genau hinhören, ob sich die Jungen über Pokemon oder ähnliches unterhielten? Nein, irgendwie fand sie es doof, Gespräche anderer zu belauschen. Noch dazu von Fünft- oder Sechstklässlern.

Wieder vergingen 4 Minuten.

“Nächster Halt, Müssen Hauptbahnhof. Ausstieg in Fahrtrichtung links!” knarrte es wieder aus der Decke.

Die Schulkinder sprangen auf, hängten sich ihre Ranzen und Taschen um und strömten zu den Türen. 

Müssen Hauptbahnhof: Jep, hier war es richtig.

Laura folgte wie automatisch der Herde vom Bahnsteig durch die Unterführung bis zum Bahnhofsvorplatz. Sie erkannte die Straße wieder von ihrem Schuleingliederungstest. Vom Bahnhof einfach nur geradeaus.

Die Bahnhofstraße war eine Allee. Sie sah altmodische Autos und Häuser. Irgendwie sah alles altmodisch aus. Die Autos waren weniger rund als in Berlin. Aber dafür bunter. In ihrem alten zu Hause waren Autos irgendwie alle silber-metallic gewesen. Aber hier: Manche waren knallgelb, froschgrün, mokkafarben oder rot. Dafür hörten sich die Autos aber anders an. Sie knatterten irgendwie. Für den Moment bedrückte sie das. Es war ein schwieriger Neuanfang für eine Heranwachsende.
“Warum ist hier alles so altmodisch? Haben die anderen überhaupt Handys?”

Sie sah Grüppchen von 2, 3 und 4 Mädchen und Jungen, die allein oder zu zweit denselben Weg gingen. Ein paar Mädchen hielten ihre Köpfe über einem kleinen Touchscreen zusammen. “Ok” – dachte Laura sich. “Sie haben Handys.Gottseidank.” Also war hier doch nicht alles so altmodisch, wie es auf den ersten Blick zu sein schien.

Kurz vor 8 Uhr:

Laura stand einsam und verloren vor dem Eingang ihrer neuen Schule.

Sie betrachtete die anderen Schülerinnen und Schülerinnen genau – besonders natürlich die Mädchen, die in etwa in ihrem Alter waren. Sie trugen andere Klamotten, hatten einen anderen Style, anderen Schmuck und die Haare waren irgendwie anders. Aber gleichzeitig war vieles irgendwie “vertraut”. Schule ist eben Schule.

Jungs ihres Alters hatte sie bislang nicht gesehen, nur ein Rudel kleiner Knirpse rannte sie beinahe um, als sie schüchtern durch die Tür ins Innere ging. In der Eingangshalle sah sie sich um: Vor lauter Kindern und Jugendlichen sah sie keine Hinweisschilder und wusste nicht wohin. Also fasste sie ihren ganzen Mut zusammen, und sprach das nächstbeste Mädchen an, das durch die Tür kam, und in etwa ihr Alter hatte:

“Entschuldigung, ich bin neu hier…wo gehts zum Lehrerzimmer?”

Das andere Mädchen war etwas größer als sie, hatte lange rotblonde Haare und trug Stiefeletten mit Absätzen und eine weiße Lederjacke. Die angesprochene musterte sie nur ganz kurz von oben nach unten, aber das reichte aus, daß Laura am liebsten mit ihren [doofen Chucks, Skinnyjeans und dem Hoodie]

schneeweißen Sneakern ihrer Highwaist-Jogginghose und dem Hoodie, den sie trug, als “deeply underdressed” im Erdboden versinken wollte.

Aber das blonde Mädchen sagte nur: „Da hinten rüber!”, und deutete in Richtung eines Flurs, aus dem Lehrerinnen und Lehrer kamen.

Laura bedankte sich, und es war ihr peinlich, dass sie das nicht auch so gefunden hatte. Sie fühlte sich total verpeilt. 

Das blonde Mädchen hatte sich bereits wieder umgedreht und war weitergegangen.

Laura hörte noch, wie die Unbekannte mit einem langen Ruf “Daggiiiiii” ihren Schritt beschleunigte.

Sie traute sich nicht, an die Tür des Lehrerzimmers zu klopfen, aber das war auch nicht nötig: eine hässliche laute Klingel ging los: 8 Uhr, Unterrichtsbeginn. Aus dem Lehrerzimmer kamen Lehrerinnen und Lehrer. Sie sprach die erste Lehrerin an, denn sie wusste ja nicht, welche die richtige war: “Entschuldigung, ich bin Laura Bauer, und soll mich bei einer Frau Rickmers melden.”

Die Lehrerin, schon eine etwas ältere Dame, lächelte sie freundlich an: “Ah..Du meinst Fräulein Rickmers…un moment, si vous plait” – und drehte sich um,  und rief durch die Tür ins Lehrerzimmer: “Juliane, hier ist eine Schülerin für dich!”

Laura war etwas verwirrt, weil die Dame Fräulein Rickmers statt Frau Rickmers gesagt hatte – und mit einem leichten französischen Akzent gesprochen hatte. War ihre neue Klassenlehrerin etwa auch so eine alte Frau? Oder war die vermeintliche Französischlehrerin nur altmodisch?

Aber aus dem Lehrerzimmer kam nur die Stimme eine offenbar relativ jungen Frau:
“Ah, das wird die Neue sein…ich komme!”

Und dann kam sie aus der Tür: Laura schätzte sie Anfang 30, groß, schlank und sportlich, dunkelrot gefärbte Haare mit schwarzen Strähnen. Fräulein Rickmers hielt noch den Rest eines Apfels in der Hand, den sie wohl gerade gegessen hatte – und warf diesen mit einer ziemlich lässigen Wurfbewegung zielsicher in einen Abfalleimer, der neben dem Türpfosten stand. 

Während sie sich die Hände abwischte, sprach sie Laura an: “Sorry, ich hab’ bei meinem Frühstück etwas getrödelt. Und mit ‘ner dreckigen Pfote will ich dir nicht die Hand geben!”

Als sie fertig war, reichte sie Laura die Hand: “So, jetzt aber. Ich bin Juliane Rickmers, deine neue Klassenlehrerin… und die bist die …?”

“Laura Bauer.” 

“Laura Bauer…” wiederholte Fräulein Rickmers, um sich den Namen einzuprägen: „Ok…dann kommst du jetzt mit mir, und ich stelle dich deinen Klassenkameraden vor.”

Sie klemmte sich ihre Aktentasche unter den Arm und ging los. 

Laura tappte schweigsam neben ihr her. Sie hatte Schiss vor der Reaktion ihrer neuen Klasse. Wie würden sie sie aufnehmen?

Fräulein Rickmers schien das zu ahnen und versuchte, während sie im Treppenhaus in den ersten Stock hinaufgingen, das Eis etwas zu brechen: “Du kommst aus Deutschland, oder?”

“Ja, aus Berlin. Aber geboren bin ich in Köln“, antwortete Laura leise.

“Du brauchst keine Angst zu haben. Die 8c ist ne super nette Klasse.”

Mehr als ein verlegenes „hmmm“ brachte Laura nicht heraus. Sie hatte einen Kloß im Hals.

Fräulein Rickmers blieb kurz verwirrt stehen: “Raum 53 – moment, rechts rum…” sprach sie mehr zu sich selbst. Sie kamen vor dem Klassenzimmer an. Dort warteten sechs Mädchen und acht Jungen auf ihre Lehrerin.

Die Jungs nahmen von Laura anscheinend überhaupt keine Notiz – aber vier der Mädchen steckten sofort tuschelnd die Köpfe zusammen. Laura fühlte sich von einem Knäuel giftiger Schlangen beobachtet, als wäre sie nackt. Ihr war das zutiefst peinlich, und sie hoffte der Albtraum wäre bald vorbei.

Die beiden übrigen Mädchen hatten miteinander quatschend direkt vor der verschlossenen Tür gestanden, und Fräulein Rickmers und Laura gar nicht wahrgenommen: So vertieft waren sie in ihr offenbar höchst wichtiges Gespräch.

Zu Lauras Überraschung war die eine der beiden das blonde Mädchen, das sie eben noch nach dem Weg gefragt hatte: “Uuuund dann hat er mich gefragt, ob er meine Nummer haben kann, und dann”

“Das wird bis zur Pause warten müssen, liebe Marie-Sophie!” fiel Fräulein Rickmers ihr ins Wort “Geht mal an Seite, damit ich aufschließen kann!”

“Oh…Hallo Fräulein Rickmers!” Die Blonde drehte sich ertappt um, das andere Mädchen hatte Laura nicht sehen können, da Fräulein Rickmers direkt vor ihr stand.

Sie folgte den anderen ins Klassenzimmer. 

Ratlos, wohin sie gehen sollte, blieb Laura am Pult vor der Tafel stehen. Sie schwitzte Wasser und Blut – und hatte Angst.

“Sooo Leute…stellt mal die Tische und Stühle so, wie ihr sie haben wollt, aber mit Blickrichtung Tafel!” rief Fräulein Rickmers, als sie die Fenster zum Stoßlüften öffnete. Das Klassenzimmer roch nach 6 Wochen Sommerferien ziemlich muffig.

Zu den Besonderheiten dieser Schule gehörte es, daß sie reichlich bescheuerte Schülerpulte hatte, über die die Lehrer nicht immer ganz glücklich waren: In den Räumen für die Mittelstufe gab es leicht gebogene 3er-Tische, die in etwa geformt waren wie eine Banane. Die Tische hätte man zu einem Halbkreis zusammenstellen können, aber nur längs zum Fenster, nicht zur Tafel hin. Niemand wusste, wer diese Tische mal angeschafft hatte, aber Schülerinnen wie Lehrerschaft mussten einstweilen mit dem Mobiliar auskommen.

Ihre neuen Klassenkameraden hatten die Pulte so gestellt, dass ein Mittelgang frei blieb: An der Fensterseite saßen drei Jungs, dahinter wieder drei und in der hintersten “Banane” zwei Jungen.

Die sechs Mädchen hatten sich jeweils dreimal hintereinander zu zweit an ihre Tische verteilt – in jeder Bank war noch ein Platz frei. 

Laura wusste nicht, zu welchen Mädchen sie sich setzen sollte. Sie überlegte noch, und versuchte, die anderen einzuschätzen.

“Sooo! Setzt euch! Alle gelandet? Dann mal herhören!” Fräulein Rickmers stellte sich neben Laura am Pult auf: “Ich möchte euch eure neue Mitschülerin vorstellen: Das ist Laura, sie ist neu an unserer Schule und geht ab heute in eure Klasse!”

Genau das war der Moment, den Laura so gefürchtet hatte: Alle Augen ruhten auf ihr, alle starrten sie neugierig an. Sie stammelte nur ein leises „Hallo“. Jeder konnte sehen, dass ihr das peinlich war.

„Ich nehme an, du möchtest dich nicht zu den Jungs setzen, sondern lieber bei den Mädchen Platz nehmen?”

“Äh…nein also ja..” 

Die anderen kicherten. 

Die große Blonde saß in der mittleren Reihe ganz links nahe der Wand, neben ihr ein Mädchen mit dunklem schulterlangen Haar und braunen Augen. Der rechte Platz am Mittelgang war noch frei. Die Blonde sah sie “nur” neugierig, aber aufgeschlossen an. Das Mädchen in der Mitte schien sie aber ein klein wenig anzulächeln. Darum steuerte Laura auf die zweite Bank zu. „Ist hier noch frei?” fragte sie unsicher das Mädchen mit den dunklen Haaren. 

„Ja klar…setz dich!”

“Ja, dann herzlich willkommen am ASG, liebe Laura!” rief Fräulein Rickmers noch hinterher,  “…und Dagmar: Du passt ab jetzt auf Laura auf, dass sie nicht verschütt geht und zeigst ihr alles, klar?”

“Mach ich gerne, Fräulein Rickmers“, antwortete Daggi. 

“Du beschützt sie mit deinem Leben!” Das hatte Fräulein Rickmers mit einem Augenzwinkern und erhobenem Zeigefinger als Scherz gemeint. 

Aber Daggi setzte sich gerade auf und antwortete: “Jawohl, Fräulein Rickmers!” als sei sie bei etwas ertappt worden.

Nachdem Laura sich gesetzt hatte, war sie ganz perplex, als Daggi ihr richtig förmlich die Hand gab, aber sich freundlich vorstellte: “Ich bin Dagmar. Aber alle nennen mich Daggi”

„Laura“, sie gaben sich die Hand.

Und auch die große Blonde stellte sich vor und streckte ihren Arm quer über die Bank, sodass sie an Laura herankam: “Ich bin Marie-Sophie, hi!”

“Hi.”

Marie-Sophie hatte den Moment genau beobachtet, als sich Laura neben Daggi setzte. Natürlich hatten alle anderen auch dem “spannenden Ereignis” zugeschaut, aber Marie-Sophie hatte auch zwischen Laura und Daggi hin- und hergeschaut. 

Sie wusste noch nicht genau, was, aber irgendwas war anders. Irgendwas war gerade passiert. Nachdenklich sah sie nochmal zwischen Daggi und “der Neuen” hin und her. 

Fräulein Rickmers hatte in der Zwischenzeit reichlich Papierkram aus ihrer Tasche geholt. 

Sie setzte sich hinter das Pult links vor der Tafel.

„Ihr könnt euch übrigens bei eurer neuen Mitschülerin bedanken, denn wenn sie nicht zu euch gestoßen wäre, hätte die Lehrerkonferenz in den Sommerferien eure 8C aufgelöst, und euch auf eure beiden Parallelklassen verteilt…!”

“Wie?” rief einer der Jungen.

“Was?” rief eines der beiden Mädchen aus der hinteren Bank.

“Tja nun, das Konzept der kleinen Klasse ist an und für sich erfolgreich, wenn man es vom Lerngruppen-Standpunkt aus betrachtet, aber rein wirtschaftlich sind Klassen mit weniger als 15 Schülerinnen und Schüler Geldverschwendung. Lehrkräfte kosten auch Geld, sogar ich.” versuchte Fräulein Rickmers zu erklären. Und mit Laura seid ihr nun 15. Ihr könnt euch also wirklich bei ihr bedanken.”

Wieder lagen fast alle Blicke auf Laura – die wiedermal am liebsten im Erdboden versunken wäre.

“Danke, dass du da bist” flüsterte Daggi von der Seite.

Laura guckte sie an. “Ähm…bitte…keine Ursache.” murmelte sie verlegen. Und wieder sah sie in Daggis Gesicht das ganz, ganz stille Lächeln wie zuvor.

“So, dann gehen wir mal die Anwesenheitsliste durch…und sei es nur der Form halber:” Fräulein Rickmers nahm die Liste, und las vor: “ Albrecht, Christian…?” 

Ein Junge in der letzten Bank hob stumm die Hand. Laura hatte sich extra umgesehen; sie wollte sich die Namen ihrer neuen Klasse möglichst schnell einprägen, um sich nicht zu blamieren.

“Bauer, Laura – ist da, wie wir alle gesehen haben…” – ups, sie war offenbar als Zweite im Alphabet aufgelistet.

„Eigentlich heiße ich ja Münch mit Nachnamen.” murmelte sie verlegen in sich hinein.

Fräulein Rickmers stutzte. “Wie bitte?”

Laura seufzte. “Bauer ist der Nachname meines Stiefvaters, eigentlich heiße ich Münch.” Laura sah, dass Fräulein Rickmers verwirrt war.

“Äh…auf deiner Anmeldung steht aber….moment…” Sie suchte in ihren Unterlagen.

Laura lief rot an, es war ihr nun wieder peinlich, dass ihre Lehrerin sie überhaupt gehört hatte.

“Bauer, Laura, geboren am 26.4. und die Konfession ist evangelisch?” fragte Fräulein Rickmers.

Spätestens jetzt wäre Laura am liebsten wieder im Erdboden versunken – und war allerdings auch etwas verärgert. Jens, ihr Stiefvater, hatte wohl über ihren Kopf entschieden.

“Ähm…also das Letzte stimmt auch nicht…“

Jetzt war Juliane Rickmers komplett verwirrt: “Aber du bist schon die neue Schülerin, die hier sein sollte?” fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und etwas gespielter übertriebener Verwirrung. Die anderen in der Klasse mussten kichern.

“Ja.” Laura rollte seufzend mit den Augen. “Bauer ist der Nachname meines Stiefvaters…” 

“Soll ich deinen Namen änd…?” fragte Fräulein Rickmers.

Mit einer resignierenden Handbewegung schüttelte Laura den Kopf. “Lassen Sie den Namen. Ist ‘ne lange Geschichte…”

Wenn sie das durchgezogen hätte, würde es zu Hause bestimmt Ärger geben. Und darauf hatte sie keinen Bock. Aber eine Sache musste sie Jens heimzahlen: “…aber mit Religion und so: Da nehm’ ich das andere…”

“Also katholisch, nicht evangelisch?”
“Ja!”

“Okay…” Fräulein Rickmers notierte sich die Änderung auf ihrem Zettel, in dem sie “ev” durchstrich und durch ein “rk” ersetzte.

Vor zwei Wochen, als sie nach dem Schuleingliederungstest mit ihrer Mutter wieder nach Hause gekommen war, hatte es die Diskussion beim Abendbrot gegeben:

Nachdem ihre Mutter Jens mitgeteilt hatte, dass es am ASG nur die Wahl zwischen katholischem und evangelischem Religionsunterricht, aber keinen Ethikunterricht gab, war er fast ausgerastet.

“Ich will nicht, dass sie in die Fänge dieser rückwärtsgewandten Kinderfickersekte gerät! Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, verfickte Hacke! Die sollen sich ihre Moralpredigten und albernen Kostüme in ihre schwulen Ärsche schieben! Wenn ich das schon höre: Jungfrau Maria?!…Und wenns hier keinen Ethikunterricht gibt, und Laura nur die Wahl zwischen Pest und Cholera hat, dann soll sie halt meinetwegen bei die Evangelen gehen. Oder sie geht auf ne andere Schule. Aber, Silke, mir kommt nichts von diesen Dreckskatholiken ins Haus!”

Lauras Mutter, Silke, seufzte etwas gereizt. “Also erstens bin ich auch eine von den Dreckskatholiken.”

Jens sah sie verwirrt an. “Hä? Ich dachte du bist ausgetreten?!”
“Wollte ich. Aber dann kamst du mit deiner großartigen Idee mit uns in ein anderes Land zu ziehen, der Umzug, und da hab ich es einfach verbummelt. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr in ner Kirche, aber…als Laura geboren wurde, haben Michael und ich sie taufen lassen – und alle waren zufrieden. Naja…vor allem unsere Eltern. Aber sie soll ja auch keine Messdienerin werden, sondern einfach nur ganz normal am Schulunterricht teilnehmen.”

“Das wäre ja noch schöner.”
“Und zweitens: die nächste Schule für Laura wäre die internationale Schule in der Hauptstadt. Das sind zwei Stunden Fahrt. Jeden Tag. Und ich möchte das meiner Tochter nicht zumuten, nur damit sie ein einzelnes Schulfach nicht hat, nur weil es dir nicht gefällt. Aber, und das ist für mich das Wichtigste: Sie soll selber entscheiden. Mit 14 darf man das selbst entscheiden. In Deutschland, und wahrscheinlich hier auch.”

Sie wandte sich an Laura: “Wenn du möchtest, dann kannst du dir das überlegen, und ne Entscheidung treffen, du bist alt genug.”

Laura rollte nur mit den Augen. Sie war einfach nur GENERVT.

“Also wenn Jens unbedingt meint, ich soll evangelische Religion wählen…und du Mama…wenn du meinst, ich soll es selbst entscheiden…” Sie schloss kurz die Augen und tat so, als würde sie sich in ihr vermeintliches Schicksal ergeben – nur um dann die Augen wieder aufblitzen zu lassen, und ihren Satz zu beenden: “…dann wähle ich katholisch als Religionsfach! Meine Entscheidung!”

“Na suuuper!” motzte Jens.

“Laura, du brauchst jetzt nicht aus purem Trotz…”

“Mama! Du hast gesagt, es ist meine Entscheidung. Und da hast du sie. Ich bin auf meinem Zimmer!”

Laura stieß wütend den Stuhl vom Tisch ab, stand auf und marschierte schnurstracks die Treppe hoch.

Silke Bauer seufzte. “Das hast du ja toll hinbekommen.”

“Ich?” fragte Jens angeätzt. “Ich möchte einfach nicht, dass unsere Kinder mit irgendwelchen unwissenschaftlichen Ammenmärchen ne Gehirnwäsche verpasst bekommen.”

“Du bist nicht mein Vater!” schrie Luras Stimme vom oberen Stockwerk herab. Sie war vor lauter Wut am oberen Treppenabsatz stehen geblieben, aber auch, weil sie insgeheim hoffte, ihre Mutter würde sich mit Jens streiten. 

Aber nachdem sie das geschrien hatte, verschwand sie wirklich mit einem lauten Türknall in ihrem Zimmer.

An diesem Abend musste Laura nun denken, als sie Fräulein Rickmers nach ihrer Konfession fragte. Wenn Jens gegen etwas war, dann war sie erstmal grundsätzlich dafür und umgekehrt. 

“Aber Anschrift stimmt auch, oder? Sonnenbergstraße, Wiezethal?” fragte Julian Rickmers zur Sicherheit noch einmal nach.

“Huhu? Laura? Bist du da?”

„Ähm, was?“ Sie erwachte aus ihrer Erinnerung. „Äh…ja…das stimmt!”

“Na schön, dann weiter: Cossmann, Niklas, ist da….Diederich, Jonas…ist da…”

Und während Fräulein Rickmers die Liste so weiter runter ging.

Dagmar stieß ihr von links in die Seite.

“Sonnenbergstraße, in Wiezethal?”

“Äh ja?”
“Da wohne ich!” Daggi hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund.

“Oh mein Gott. Ihr seid die Familie, die in das alte Haus vom Professor Pastorius eingezogen ist?”

„Äh ich glaub schon, meine Mutter hat mir gesagt, dass in unserem Haus vorher ein alter Mann gewohnt hat…”

“Heinemann, Dagmar Caroline?!” Fräulein Rickmers war in ihrer Liste bei H angekommen.

Daggi drehte sich erschrocken um.

“Sorry Fräulein Rickmers, aber ich hab grad erst gemerkt, dass wir Nachbarn sind?!” und deutete auf Laura.

Wieder war die Lehrerin verwirrt. “Was?” fragte sie stirnrunzelnd. “Ihr sitzt direkt nebeneinander in einer Bank, natürlich seid ihr Nachbarn?!”

“Ja…nee…sie wohnt in dem Haus neben uns…” versuchte Daggi zu erklären.

“Und ihr seid euch bis eben noch nicht begegnet, auch in den Ferien noch nicht gesehen?” war die ungläubige Rückfrage.

“Äh neee… ich war zwei Wochen im Sportcamp und nicht zu Hause…” Daggi war nun rot vor Scham, und wandte sich verlegen an Laura: “Sorry…”
“Das macht nichts, ich war ja auch nicht viel draußen…” Laura war dies ebenso peinlich und machte sie auch verlegen.

“Na ihr seid mir vielleicht ein Paar Blitzbirnen?!” meinte Fräulein Rickmers amüsiert den Kopf schüttelnd und dabei spaßig die Augen verwirrend. Die anderen in der Klasse mussten unweigerlich auflachen.

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